Nachruf Godebert M. Reiss

Nachruf Godebert M. Reiss (1937-2023)

Am 3. Oktober 2023 ist unser Firmengründer und ehemaliger Seniorchef Godebert Michael Reiss im Alter von 86 Jahren friedlich entschlafen. Wir verlieren mit ihm eine charismatische Unternehmerpersönlichkeit, die das Auktionshaus prägte und durch viele erfolgreiche Jahre führte.

Godebert Reiss wurde 1937 in Rheinhausen geboren. Nach Studien in den Fächern Geschichte und Altphilologie fand er schließlich Anfang der sechziger Jahre den Weg in die Antiquariatsbranche als stellvertretender Leiter der Antiquariatsabteilung des renommierten Düsseldorfer Stern-Verlages. Kurz nachdem er die Leitung dort übernommen hatte, vermittelte ihm ein Kollege die Juniorpartnerschaft im Auktionshaus Wolfgang Brandes in Braunschweig, die er von 1966-1970 innehatte.

1971 veranstaltete Godebert Reiss die erste Auktion unter eigenem Namen in Mainz. Der geschäftliche Erfolg stellte sich sofort ein und erbrachte Umsatzsteigerungen von 100% in den ersten Jahren. Als wichtigste Mitarbeiter in dieser frühen Zeit fungierten seine Frau Antje, die den gesamten Innenbetrieb und die Buchhaltung leitete, sowie Manfred Samtleben, der seine langjährige rechte Hand war und erst 2013 aus dem Unternehmen ausschied. Insgesamt gelang es Godebert Reiss, der ja als Self-Made-Man startete, ein fantastisches Team aus fähigen und über viele Jahre treuen Mitarbeitern aufzubauen.

1975 zog das Unternehmen, jetzt in Partnerschaft mit Detlev Auvermann, nach Glashütten im Taunus, wo es Jahre des nahezu ungebremsten geschäftlichen Wachstums erlebte. Eine besonderer Höhepunkt war die Versteigerung einer Bibliothek portugiesischer und spanischer Reiseliteratur, die den stolzen Erlös von 5 Mio. DM erbrachte und maßgeblich war für den internationalen Durchbruch. 1989 trennten sich die beiden Geschäftspartner und Godebert Reiss verlegte das Auktionshaus ins nahe Königstein, wo er ein repräsentatives Firmengebäude erwerben konnte. Die Firma prosperierte weiter und erlebte in den frühen neunziger Jahren ein stetig wachsendes Auktionsangebot, darunter die Versteigerung einiger bedeutender Adelsbibliotheken und Sammlungen. Unter diesen befanden sich z.B. umfangreiche Buchbestände aus Schloss Nordkirchen, die mehrteilige Auktionsserie der Bibliothek Schönborn-Buchheim, eine exquisite Sammlung Pressendrucke und Literatur, eine geschlossene Sammlung Musiktheorie sowie eine bemerkenswerte Sammlung Staatswissenschaft und Nationalökonomie. Allen diesen Auktionen wurden eigene Sonderkataloge gewidmet.

1995 trat Sohn Clemens Reiss als Gesellschafter in das Geschäft ein und übernahm 2002 die Geschäftsführung. Dem Duo gelang nun in den folgenden fruchtbaren Jahren der gemeinsamen Zusammenarbeit die Akquise weiterer bedeutender Bibliotheken. Godebert Reiss war ein hervorragender Auktionator. Eine Tätigkeit, die er auch nach Abgabe der Geschäftsführung noch lange ausübte. Die bei deutschen Buchauktionen typischen langen Sitzungen verstand er mit Witz und Schlagfertigkeit aufzulockern. Seine Scharfzüngigkeit war berüchtigt. Sein Zugang zur Handelsware Buch war nie romantisch und ehrpusselig. Seine beeindruckende humanistisch-historische Bildung (nie langweilig von ihm doziert – vielmehr begeistert zelebriert) paarte sich mit ausgeprägtem Geschäftssinn. Bücher durften nie zu billig angeboten werden. Als Händler und Auktionator verstand er dies als sein Prinzip. Daher scheute er sich nicht, seine Schätzpreise regelmäßig höher anzusetzen als die Konkurrenz. Der Erfolg gab Reiss recht und bescherte ihm langjährige treue Zulieferer. Reiss war auch ein großzügiger Gastgeber. Die in Königstein im ehemaligen Restaurant und Hotel Sonnenhof (heute Villa Rothschild) seit 1974 ausgerichteten Auktionsdiners für händlerische Kollegen, über viele Jahre auch von Musik und Tanz eingerahmt, waren legendär. An Speis und Trank wurde nicht gespart und nicht selten endete die After-Party nach Mitternacht. Anderntags erlebte man im Auktionssaal manchmal etwas müde aber glückliche Bieter.

Jenseits des eigenen Auktionssaales war Godebert Reiss ein engagiertes Mitglied des Verbandes deutscher Antiquare e.V., dessen Präsidentschaft er mehrfach innehatte. Die Verbandstätigkeit brachte auch die Teilnahme an verschiedenen in- und ausländischen Messen und Kongressen mit sich, darunter die renommierte Stuttgarter Antiquariatsmesse sowie diverse ILAB Messen. Obwohl Führung, Organisation und Akquise viel Zeit beanspruchten, so war Reiss der unmittelbare Umgang mit dem alten Buch ein großes Anliegen. Der Experte war er selbst. Als ihm in den 80iger Jahren erstmals das Exemplar der 95 Thesen Martin Luthers angeboten wurde, war dies ein überraschender Fund in einem Konvolut Lutherschriften, dessen Finderglück er persönlich zu spätabendlicher Bürostunde in den Glashüttener Geschäftsräumen genießen durfte. Sein Sohn erinnert sich, wie sein Vater ihn nachts anrief: „Stell‘ Dir vor, was ich in dem Konvolut gefunden habe: die Luther-Thesen.“ Vater und Sohn ging wohl ein Schauer der Ehrfurcht den Rücken hinauf und hinunter angesichts der historischen Bedeutung dieses Fundes. Die Auktion der Thesen erbrachte schließlich einen Zuschlag von 50.000 Mark. Mehr als dreißig Jahre später, im Jahr 2017 erlebte Godebert Reiss, wie dasselbe Exemplar bei Reiss & Sohn nunmehr einen Zuschlag von 1.1 Mio. Euro erbrachte. Er war hocherfreut.

Das Alter bescherte Reiss so manche körperliche Beschwernis, trotzdem begab er sich noch so oft es ging ins Büro, um die ein oder andere Buchbeschreibung zu verfertigen. Auch übernahm er noch gelegentlich den Auktionshammer und leitete die Sitzung mit gewohnter Geistesgegenwart. In der digitalen Wende, die die Antiquariatsbranche wie immer bei Neuerungen, mit etwas Verspätung erreichte, erkannte er sofort die Notwendigkeit, auch wenn er sich selbst nur noch bedingt als Akteur in dieser Welt sah. Als das Online-Live-Bieten eingeführt wurde, geschah das in einer Zeit, als er sein Wohnhaus nicht mehr verlassen konnte. Er nutze dieses Medium begeistert, da es ihm wieder direkte Teilhabe am Geschehen ermöglichte. Es hat ihm den Abschied aus dem aktiven Auktionserlebnis sehr erleichtert. Auch schriftstellerisch betätige sich Reiss in dieser Zeit und publizierte drei aufwendig gestaltete Bücher, in denen er seine beruflichen Erinnerungen niederlegte. Im Antiquariatsverband betätigte er sich als Ombudsman mit seinen Kollegen Frieder Weitbrecht und Susanne Koppel.

Im Jahr 2016 schied Reiss endgültig aus der Firma aus. Zu vielen alten Kollegen und Weggefährten hielt er in den späten Jahren noch Kontakt. Die Reihen lichteten sich um ihn, aber es blieben in ihm sehr lebendig die alten Erinnerungen an seinen geliebten Beruf. Nun haben wir Godebert Reiss, ein Urgestein unserer Branche, endgültig verloren. Reiss & Sohn trägt seine Handschrift und die Erinnerungen an ihn sind noch überall präsent. Inhaber und Mitarbeiter werden ihm ein ehrendes und dankbares Andenken bewahren.

Das ist ein sehr kurzer Test!

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